Der Landstreicher

 

"Da stehst du nun", sagt der Landstreicher zum Baum. "Bist zwar groß und stark, aber was hast du schon vom Leben? Kommst nirgendwo hin. Du kennst den Fluss nicht und nicht die Dörfer hinter dem Berg. Immer an der selben Stelle! Du kannst einem Leid tun!"
Er packt sein Bündel fester und geht los.

"Da gehst du nun", sagt der Baum. "Immer bist du unterwegs. Hast keinen Platz, an den du gehörst. Du kannst einem Leid tun!"
Der Landstreicher bleibt stehen. "Hast du das wirklich gesagt?", fragt er und schaut zum Baum empor.

"Wer sonst?", sagt der Baum. "Siehst du hier jemanden außer mir?" "ne", sagt der Landstreicher. "Meinst du wirklich, was du sagst? Ich geh in die Welt, Tag für Tag, ich kenne die Menschen und die Häuser mit den rotgedeckten Dächern..."
"Zu mir kommt die Welt", sagt der Baum. "Der Wind und der Regen, die Eichhörnchen und die Vögel. Und in der Nacht setzt sich der Mond auf meine Zweige."

"Ja, ja",sagt der Landstreicher, "aber das Gefühl, zu gehen - Schritt für Schritt."
"Mag schon sein", sagt der Baum, "aber das Gefühl, zu bleiben - Tag und Nacht. "
"Bleiben",sagt der Landstreicher nachdenklich. "Zu Hause sein. Ach ja",sagt er.
Und der Baum seufzt: "Gehen, unterwegs sein können - ach ja."
"Wurzeln zu haben", sagt der Landsreicher, "das muss ein tolles Gefühl sein!"
"Ja", sagt der Baum, "ganz ruhig und fest ist es. Und wie lebt man mit den Füßen?"
"Leicht",sagt der Landstreicher, "flüchtig und schnell."
"Wenn wir tauschen könnten", sagt der Baum. "Für eine Weile."
"Ja",sagt der Landstreicher, "das wäre schön."
"Lass uns Freunde sein", sagt der Baum. Der Landstreicher nickt. "Ich werde wiederkommen", verspricht er, "und ich werd dir vom Gehen erzählen."
"Und ich ", sagt der Baum, "erzähle dir dann wieder vom Bleiben."

(Gina Ruck-Pauquet)
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